Das Natur-Defizit-Syndrom und was es anrichten kann
Mein Bruder wohnt in Wien und ist Vater eines Sohnes. Mittlerweile ist der Kleine 6 Jahre alt und interessiert sich mehr und mehr dafür, was auf dieser Welt so alles passiert – und vor allem wie und warum es passiert. So fragte er meinen Bruder eines Tages: „Papa, wachsen Kartoffeln eigentlich auch auf einem Baum?“ Mein Bruder war im ersten Moment richtig schockiert über diese Frage. Bis ihm bewusst wurde: Das kann mein Sohn ja gar nicht wissen – immerhin ist er in der Innenstadt aufgewachsen und einen Kartoffelacker hat er in seinem bisherigen Leben noch nie bewusst zu Gesicht bekommen.
Mein Bruder selbst hat ganz andere Erinnerungen an seine Kindheit, daher war diese Frage im ersten Moment auch so befremdlich für ihn. Aufgewachsen auf dem Land, viel im Freien, kannte er nahezu jede Pflanze und jeden Vogel beim botanischen Namen. Auf dem Land bekommt man ein ganz anderes Gefühl für die Jahreszeiten und Saisonen von Obst und Gemüse, man schätzt diese Lebensmittel und freut sich, wenn sie gut wachsen.
Heutzutage sind ständig alle Sorten Obst und Gemüse im Supermarkt verfügbar, das Landleben kennen Kinder, wenn überhaupt, häufig nur von der Bauernhofwoche mit der Schule – und wenn das Wetter über einen längeren Zeitraum regnerisch und grau ist, verbringen Stadtkinder ihre Freizeit häufig lieber daheim in der warmen Wohnung vor dem Computer, Fernseher oder Smartphone.
Lila Kühe und gelbe Enten: Kinder haben kaum mehr Wissen über die Natur
Medial bekannt wurde der verlorene Bezug der Kinder zur Natur unter anderem durch einen Malwettbewerb in Bayern, an dem etwa 40.000 Kinder teilnahmen. Im Zuge des Wettbewerbs sollten sie auch eine Kuh ausmalen – und hier wählten etwa 30 Prozent der Schüler die Farbe Lila, was offensichtlich in Anlehnung an die Kuh, die auf der Verpackung eines bekannten Schokoladenherstellers abgebildet ist, geschah.
Die Naturferne der Kinder von heute wird auch durch den Jugendreport Natur 2016 in erschreckender Art und Weise belegt. Hierfür wurden über 1.250 Jungen und Mädchen aus sechsten und neunten Klassen aller Schulformen in sechs verschiedenen Bundesländern Deutschlands befragt. [1]
Die Bandbreite der Antworten reicht von liebevoll naiv bis bedenklich: Die Sonne geht laut manchen Kindern im Norden auf, die H-Milch stammt von H-Kühen, die Frau des Hirsches nennt sich Reh und Smartphones kommen nach Meinung der befragten Kinder ohne jeden natürlichen Rohstoff aus.
Woher eine solche Naturferne rührt? Hier muss sich wohl der ein oder andere Elternteil selbst an der Nase packen. Wer lieber am Laufband statt übers Feld joggt, das Fitnessstudio aufsucht, statt sich bei der Haus- und Gartenarbeit körperlich zu betätigen und bevorzugt am ausgewiesenen Grillplatz mit Wasseranschluss und Strom grillt, statt wildromantisch auf einer Lichtung zu picknicken, der gibt eben eine bestimmte Richtung vor. Und die lautet: In der Natur sein ist unbequem – schließlich gibt es dort meist weder Wifi noch Videospiele.
Das Natur-Defizit-Syndrom und die möglichen Folgen
Laut der Online-Enzyklopädie Wikipedia wird unter der Bezeichnung „Natur-Defizit-Syndrom“ „die Nichtkenntnis und das Nicht-mehr-Erleben natürlicher Rhythmen und Erscheinungen sowie die sich aus dieser Entfremdung ergebenden Folgen, vor allem für Kinder und Jugendliche und deren Entwicklung, aber auch für Erwachsene und Gesellschaft“ verstanden.
„Als biologische Wesen sind wir physiologisch darauf eingestellt, in bestimmten Umgebungen zu sein – zu laufen, zu spielen, zu jagen, grundsätzlich aktiv zu sein“, sagt Dr. Ross Cameron vom Department of Landscape der Sheffield University. [2]
Auch der amerikanische Kinderrechts-Experte Richard Louv findet die fortschreitende Urbanisierung unserer Lebensräume vor allem für unsere Kinder bedenklich: Er prägte den schon im Jahr 2005 den Begriff Natur-Defizit-Syndrom, um „die Konsequenzen der Entfremdung von der Natur“ zu beschreiben.
In seinem Buch „Last Child in the Woods“ dokumentiert Louv Studien, die nahelegen, dass Menschen, die sich selten im Grünen aufhalten, häufiger unter körperlichen und emotionalen Belastungen, wie Angst, Depression und Fettleibigkeit leiden. Kinder machen den Großteil seiner Forschungen aus und sind häufig von Aufmerksamkeitsstörungen betroffen bzw. können sich in der Schule weniger gut konzentrieren. [3]
Louv findet harte, aber klare Worte für die Konsequenzen, die Eltern aus der Entfremdung ihrer Kinder von der Natur ziehen müssen: Kinder büßen ihm zufolge ihre Kreativität ein, sie werden zudem um Lebensfreude betrogen und funktionieren womöglich – aber sie verkümmern.
Richard Louv ist der Ansicht, dass die Natur auf „unvollkommene Weise vollkommen ist.“ In ihr kann ein Gefühl von Geborgenheit und Zugehörigkeit entstehen. Man müsse keinesfalls religiös sein, um der Natur in Demut und Dankbarkeit gegenüberzustehen sowie Glück zu empfinden, ebenfalls auf diese unvollkommene Weise vollkommen zu sein.
So ist er der Überzeugung, dass Kinder, die vorwiegend in geschlossenen Räumen mit künstlichem Licht aufwachsen, um diese Gefühle betrogen werden. Im Fernsehen und am Computer bleibt es bei Simulationen, das Kind erlebt dort Gegenstände nicht in ihrer Realität, es fehlen Haptik, Gerüche und Geräusche. In den virtuellen Welten gibt es viel Erregung – aber nichts, was dazwischenkommt und was die Erregung wieder herunterfährt, die Kinder erdet. Fernsehen berieselt, man muss nicht mehr selbst tätig werden – sondern kann einfach schauen und dabei nichts tun. Man braucht kein Entwicklungswissenschaftler zu sein, um zu erkennen, welche Folgen das für die Kreativität von jungen, ungeformten Persönlichkeiten haben kann.
Louv hat auch Zahlen für die „Verstädterung“ parat: Die Anzahl der Farmbewohner schrumpfte in Amerika im Laufe eines Jahrhunderts von 40 auf 1,9 Prozent der Bevölkerung. Die Zeiten, in denen Kinder sich jauchzend im Matsch wälzten, barfuß durch feuchte Höhlen krabbelten, im Baumhaus Pläne schmiedeten, teilweise unbeaufsichtigt und vor allem: draußen waren, sind vorbei. [4]
Der durchschnittliche Radius, in dem Kinder sich heutzutage eigenständig bewegen dürfen, ist im Laufe des letzten Jahrhunderts ebenfalls drastisch geschrumpft: Zehn Kilometer waren es in den 1920-Jahren – etwa 200 Meter sind es heute.
Im Jahre 1990 spielten fast drei Viertel aller Kinder zwischen 6 und 13 Jahren täglich draußen an der frischen Luft, 2003 waren es dann bereits weniger als die Hälfte. Eine Umfrage in Großbritannien brachte außerdem vor kurzer Zeit ans Licht: Mehr als 50 Prozent der britischen Sieben- bis Zwölfjährigen dürfen nicht alleine im Park um die Ecke spielen oder auf einen Baum klettern. [5]
Green Parenting: Spielerisch den Bezug zur Natur wiederherstellen
So dramatisch die Entfremdung der Kinder von der Natur auch ist: Man kann mit ihnen gemeinsam wieder zurückfinden. Die britische Autorin Kate Blincoe gibt Eltern in ihrem Buch „Green Parenting“ Tipps, wie sie das Interesse an natürlichen Vorgängen wieder entfachen können:
So legt sie Eltern nahe, ihren Kindern vermehrt Spielzeug aus Holz zu kaufen oder aus Recycling-Material statt aus Plastik. Holzspielzeug ist langlebig und frei von giftigen Weichmachern oder anderen Chemikalien in Plastik. Holz- oder Weidenkörbe zum Verstauen der Spielsachen machen sich auch optisch im Kinderzimmer gut. Die Lebensdauer von Spielsachen und Kleidungsstücken kann durch Spielzeugtausch oder in Second-Hand-Shops verlängert werden, rät Kate Blincoe. Eltern sollten wieder auf die Qualität und Langlebigkeit der Spielsachen achten, nicht nur auf den Preis.
So lernen Kinder schon früh, dass Sachen wertvoll und keine reinen Wegwerfgüter sind. In der nachhaltigen Erziehung sollte auch das Reparieren oder selbst herstellen eine wichtige Komponente darstellen. Beim Selbermachen kombinieren sich gleich drei Vorteile: Es muss nicht so viel Geld ausgegeben werden, die Kinder und Eltern sehen die Inhaltsstoffe und erleben zudem den Aufwand, den die Herstellung mit sich bringt.
Kinder helfen, vor allem wenn sie noch kleiner sind, gerne im Haushalt und lieben es, Aufgaben zugeteilt zu bekommen. So können sie sinnvoll beschäftigt werden, anstatt stundenlang vor dem Smartphone zu sitzen, während Mama putzt.
Auch das tägliche Essen ist von essentieller Bedeutung beim „Green Parenting“: Vorzugsweise sollten Lebensmittel auf Bauernmärkten und, falls möglich, ab und zu direkt bei einem Produzenten eingekauft werden – wo die Kinder auch ihre Nahrung in dem ursprünglichen Zustand sehen.
Wer keinen Garten hat, kann trotzdem Obst und Gemüse selbst anbauen: Viele Städte bieten mittlerweile grüne Parzellen an, die gemietet und anschließend bepflanzt werden können – „Urban Gardening“ lautet die Bezeichnung dafür. Kindern macht es besonders viel Spaß, selbst Pflanzen zu ziehen, sie wachsen zu sehen und direkt vom Strauch zu essen. [6]
Nachhaltige, natürliche Kindererziehung: Informative Bücher im Regenbogenkreis-Onlineshop
Das Thema Kindererziehung ist höchst kontrovers. Wir sind der Meinung: So vieles würde besser funktionieren, wenn Eltern wieder mehr in sich hineinhören und intuitiv entscheiden, was richtig ist für ihre Kinder, anstatt sich an Hygienevorschriften und selbsternannten Kindererziehungs-Experten zu orientieren sowie in ständiger Angst zu leben, ihren Kindern könnte etwas Schlimmes zustoßen.
Randi Hausmann vom Regenbogenkreis ist selbst Mutter hat ein besonders bewegendes Buch zu diesem Thema geschrieben. „Unter meinem Herzen“ ist der Titel des Buches – und der drückt besonders gut aus, was Leser sich von der Lektüre erwarten dürfen. „Zurück zur Natur, schon von Beginn an“ lautet ihr Appell, vor allem an werdende Mütter. In dem liebevoll gestalteten und reich bebilderten Ratgeber beschreibt Randi, wie sie sich während der Schwangerschaft ausschließlich auf ihre Intuition verlassen und weder Ärzte noch Vorbereitungskurse besucht hat. Sie klärt auf – über die Risiken von Ultraschall, der Geburt in Kliniken und Kaiserschnitten. Und sie macht Mut – Mütter sollten wieder den natürlichen Abläufen des Lebens und der Natur vertrauen.
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Quellen:
(1) http://www.wanderforschung.de/files/jugendreport2016-web-final-160914-v3_1609212106.pdf
(2) http://www.bbc.com/news/science-environment-38094186
(3) http://www.besthealthmag.ca/best-you/mental-health/what-is-nature-deficit-disorder/
(4) http://www.zeit.de/2011/49/L-SM-Louv
(5) https://diepresse.com/home/bildung/erziehung/693983/NaturDefizitStoerung_Lieber-Steckdose-als-Wald
(6) https://kurier.at/leben/green-parenting-wie-eltern-das-natur-defizit-syndrom-bekaempfen/187.641.070
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